Das U 02 Theater in seiner 10. Spielzeit

Wie und warum es anfing.

1989 war ich nach längerer Arbeits- und Studienzeit im Norden wieder nach München zurückgekehrt und erfuhr zu meiner Genugtuung, dass an meiner ehemaligen Schule, dem „Oskar“, die seinerzeit vom Komponisten Dieter Schnebel gegründete „AG für Neue Musik“ durch meinen einstmaligen Musiklehrer, Carl Iblacker, weitergeführt worden war. Nicht etwa aus nostalgischen Gründen bin ich der Aufforderung nachgekommen, diese Gruppe, deren Gründungsmitglied ich war, nach Iblackers Pensionierung zu übernehmen – nein, ich wollte mich trotz meiner großen Aversion der Institution Schule gegenüber nicht weigern einen Beitrag zur Förderung der Phantasie junger Menschen durch eigenwillige Musikaktionen zu leisten.

Mehrere Jahre leitete ich die Gruppe und gestaltete mit ihr etliche öffentliche (und von Rundfunk und Presse wohl beachtete) Auftritte, übergab schließlich den Grossteil der Schüler dem neuen Musiklehrer der Schule, machte mit einigen besonders Interessierten privat und auch außerhalb des Münchner Raumes weiter und übernahm die gesamte AG ein zweites Mal nach dem Weggang dieses Lehrers.

Mit Hilfe des „Neuen“, Thomas Edlinger, wurde ich nach diesen ehrenamtlichen Jahren an der Schule durch Bezahlung einer Wochenstunde auch offiziell integriert. Inzwischen war aber das Interesse der Schülerschaft an „Neuer Musik“, an Experiment und Selbsterfahrung, an subtiler Klangspielerei und Suche nach neuartigen Ausdrucksformen bis auf ein Minimum geschwunden. Edlinger und ich konnten dem Trauerspiel „Das einsame Sterben der alten Neuen Werte“ nicht länger zusehen und beschlossen gemeinsam unsere „Schnapsideezu realisieren“: Alle Schul-AGs sollten gemeinsam zu einem künstlerischen Großprojekt beitragen, das nicht nur einigen Spezialisten gefallen würde. (Notgedrungen war ich schließlich bereit, dem Zeitgeist ein Opfer zu bringen.) Dieses Projekt war „Ein Sommernachtstraum“!

Von der Idee hierzu bis zur Premiere gaben wir uns 1 ½ Jahre Zeit. Die Sparten Orchester, Chor, Percussion, Solo-Gesang und natürlich Schauspiel wurden flankiert durch Beiträge aus den Bereichen Kunst (Bühnenbild, Kostüme), Sport (Ballett) und vielen Sonderposten (Maske, Catering, Bühnenbau, Programmheft, Licht, Ton, Requisite, Video etc. etc.), deren sich eine Vielzahl von Helfern aus dem Lehrerkollegium und der Schülerschaft angenommen hatte. Grundstock der Schauspieltruppe war eine für die „neue Aufgabe“ dankbare „Neue Musik AG“ samt paar interessierten Neueinsteigern.

Mit dem ungeheueren Aufwand, der (auf völlig neuem Terrain sowohl für das Haus als auch für uns „Macher“) betrieben worden war und nach dem entsprechenden Erfolg, der uns allen beschieden war, war das Ende der einstmals renommierten „Arbeitsgemeinschaft für Neue Musik am Oskar-von-Miller-Gymnasium“ besiegelt. Geboren war dafür eine Schultheatergruppe, denn die dringlichste Frage war damals: „Was spielen wir nächstes Jahr?“

Glanzleistungen der Pionierzeit

Jetzt hatte ich „Blut geleckt“ und „wollte es wirklich wissen“!

Was ich in meiner „Profi-Zeit“ am Theater gelernt hatte, wollte ich nun verwerten. Getragen von einer Welle aufwallenden Schülerinteresses (Wer wollte nicht solche Beifallsstürme, wie die nach dem „Sommernachtstraum“, auf sich herabrieseln lassen!) wagte ich mich an das nächste Monumentalprojekt, den „Faust I“.

Ein glücklicher Zufall hatte mir just die richtigen Leute für die Besetzung der Hauptrollen beschert, und schon ging es ans Proben für die Aufführung, die diesmal nicht in der Turnhalle, sondern im Theatersaal „U 02“ – und damit stand auch der Name für die Gruppe fest – an neun(!) Abenden stattfinden sollte.

Doch Manches fanden wir hier unseren gestiegenen Ansprüchen nicht entsprechend: Der weiße Raum war noch zuviel Schul- und zuwenig Theaterkeller; in den Pfingstferien (!) strichen die Schüler in Eigenregie den Bühnenteil davon schwarz. Später spendeten uns die „Freunde des O.v.M.G:“ einen neuen (nicht schulhaft blaß-beigen, sondern theatermäßig weinroten) Vorhang, und wir bekamen sogar eine Klimaanlage. Für die bessere Publikumssicht wurde eine Erhöhung des hinteren Raumteiles geplant und hierzu ein Heizkörper ausgewechselt – auf das dazugehörige Podest warten wir allerdings heute noch...

Auf unserer U 02 Bühne agierte damals nur eine einzige Gruppe, die voll Pioniergeist, voller Energie und strotzend vor Selbstbewusstsein ein ganzes Jahr an einem einzigen Aufführungsprojekt arbeitete. Diese paradiesischen Umstände garantierten zum einen die Bewältigung solcher Großtaten wie dem „Faust“ und lockten zu anderen viele neue Interessenten an.

Das Interesse nimmt ab und zu.

So konnte ich nicht umhin meine Aufmerksamkeit nicht nur den „alten Hasen“, sondern auch Schülern und Schülerinnen der Mittelstufe zuzuwenden. Und es hatte sich gelohnt: Unversehens war ich von etlichen Talenten umringt, die alle ihr Können beweisen wollten – und das natürlich in möglichst brillanten „Hauptrollen“. Nicht jedes Mal konnte ich es jeder meiner Primadonnen recht machen. Weder die Stückauswahl noch die Rollenvergabe hatte stets ungeteilten Beifall gefunden. Darüber hinaus musste man sich daran gewöhnen, dass es Konkurrenz gab, dass die eigene Aufführung nicht die einzige im Jahr war und man sich das Publikuminteresse mit anderen zu teilen hatte.

Letzteres war inzwischen fast schon zur Selbstverständlichkeit geworden; der Laden lief und das scheinbar ungeachtet besonderer Anstrengung und außerordentlichen Engagements des Einzelnen. Unspektakuläre, publikumsferne (quasi „applauslose“) Aufgaben wie Bühnenbau, Technik, Dramaturgie und Werbung etc. wurden nur noch widerwillig abgeleistet. Der Pioniergeist war verflogen, und das Theater begann etwas „Normales“ zu werden.

In dieser Situation bedurfte es einer unnachlässigen subtilen Bemühung um jede der wertvollen Spielerpersönlichkeiten, die ja nichts dafür konnten, dass ihr Tun in den schulischen Alltag integriert worden war, und sie nicht mehr als Helden mit Sonderstatus angesehen wurden.

Gleichzeitig war es verständlicher Wunsch auch die vielen spielfreudigen jungen Mimen und Miminnen der Mittel- und Unterstufe in den Kreis aufzunehmen. Neben meinen angestrengten bis verzweifelten Versuchen die anspruchsvolle Elite der Oberstufe bei Laune zu halten und die Möglichkeiten einer neugierigen Mittelstufe nicht ungenutzt brach liegen zu lassen, war es ein Gebot der Stunde das Potenzial der Unterstufe, immerhin der Zukunft unseres Theaters, auszuschöpfen. Kurse für diese Gruppe wurden eingeführt.

Alleine konnte ich – trotz der damaligen Erhöhung meiner Wochenstundenzahl auf 3(!) – den folgenden Ansturm nicht bewältigen. Zu Hilfe rief ich angehende Theaterpädagoginnen; zuerst Antje Schäfer, dann Anna Horn und Barbara Stocker (sie hatte seinerzeit im „Sommernachtstraum“ die „Titania“ gegeben), sowie die Referendarin Nora Seiler. Eine jede der Spielleiterinnen leistete in vier aufeinanderfolgenden Spielzeiten wertvolle Unterstufenarbeit und stellte liebenswerte Produktionen auf unsere Schulbühne.

Das erhöhte Angebot fand seine Entsprechung in erhöhter Nachfrage. Und nachdem ich es irgendwann nicht mehr einsah, warum ich ständig aufs Neue Pädagoginnen anbetteln sollte, kostenlos für uns Gruppen zu leiten, stand ich eben plötzlich allein mit einer riesigen Masse spielbereiter junger Interpreten und Interpretinnen da.

Über 100 – irgendein System muß her!

Der sogenannte „Europäische Zweig“ unseres Schulsystems bescherte uns das unter dem Wortungetüm „Pflicht-Wahlfach“ (oder war es „Wahl-Pflichtfach“?) eine feste Einbindung der Theaterkurse in das Unterrichtsangebot der Schule – und somit eine weitere Erhöhung der Spielerzahlen. Eine günstige Folge war aber zugleich die Erhöhung meiner Wochenstundenzahl auf 6, und ich begann einen festen Lehrplan für das Fach „Theater“ zu entwerfen. (Dieser war allerdings nur mit mindestens 10 Wochenstunden zu erfüllen! Egal, schließlich war es ja mein eigener Plan, und das Bewältigen der Massen hatte für mich nahezu sportive Formen angenommen.)

Jahr für Jahr konnte ich „mein System“ verbessern und den Umständen anpassen. Bei über hundert Theaterwahlfächlern musste ich mir immer wieder Neues einfallen lassen, um für möglichst viele der unterschiedlichen Interessen und Begabungen möglichst adäquate Aufgabenstellungen in Bereitschaft zu haben.

Mancher Versuch blieb eine Eintagsfliege („Lyrisch Experimentelles BewegungsTheater“) oder wurde – wohl wegen geringer Anerkennung durch die Schüleröffentlichkeit („Bühnenbildnerkurs“, Auftritte in der „Pasinger Fabrik“) – schon bald wieder abgebrochen. Anderes hat sich gut bewährt („Schülerproduktionen“, „Autorentheater“, Einbindung der „Ehemaligen“, jährlicher „Tardieu-Abend“, Unterstufenproduktionen etc.) und wieder anderes gewinnt erst allmählich langsam an Wichtigkeit (Gruppenleiter- und Regie-Kurse, allg. Rollengestaltungskurse).

Mit der „Verschulung“ unseres Theaterkursangebots nahm natürlicherweise die Identifikation des/r Einzelnen mit „unserem“ U 02 Theater noch weiter ab. Auch gab es mehr und mehr bloße „Mitmacher“, die nur ein Minimum für die Sache zu leisten bereit oder im Stande waren. Andererseits erhöhte sich die Quote tatsächlicher Begabungen und die Schwierigkeit diese alle zufrieden zu stellen.

Anscheinend war aber der Balanceakt zwischen Über- und Unterforderung gelungen, denn wir erreichten schließlich die stolze Zahl von bis zu sieben unterschiedlichen Produktionen im Jahr (wobei uns fast das Publikum auszugehend drohte), und die Mitgliederzahl der Gruppe erhöhte sich weiter trotz der gesetzten Hürden in Form von schriftlichen Arbeiten (!), halbjährlichen Vorsprechen und Doppelbesetzungen.

An die 140 – Optimierung der Logistik

Die Vielzahl der Aufführungen und (sparsame) Inszenierungen hatten uns seit jeher finanziell autark gemacht (für die Infrastruktur kam ja weiterhin die Stadt München auf), doch musste eine neue Regelung her, was die zu haltende Stundenzahl betraf.

Da ich meine Überstunden nicht ungezügelt ins Grenzenlose wachsen lassen wollte, ergab sich die Notwendigkeit einzelne Gruppenstunden nur noch dreiwöchig(!) abzuhalten, was für manchen Teilnehmer bei entsprechender Lage von Feiertagen oder Schulfahrten eine Jahresstundenzahl von nur noch circa 10 bedeutete.

So konnte es nicht mehr weitergehen. In meiner Not sprang mir der Elternbeirat bei und finanzierte bis auf weiteres 3 Wochenstunden für eine Praktikantin. Die war dann auch gleich gefunden, nämlich in Julia Dippel, die schon als Schülerin mit etlichen Regiearbeiten, eigenen Stücken und unzähligen Beweisen ihres schauspielerischen Talents unsere Aufmerksamkeit erregt hatte. Auch sie war, wie ich, bereit über diese vergüteten Stunden hinaus Fahrtenbetreuung, Abendspielleitung, Dramaturgieaufgaben, Extraproben, Bühnenbildgestaltung und andere zeitaufwändige Aufgaben zu übernehmen. Die Kurse der Oberstufe sind nun unser „Geschenk an unser U 02 Theater“.

In der Mittel- und Unterstufe machte das System der Doppel- bis Dreifach(!)-Besetzung Schule, verschiedene Kurse wurden zeitweise zusammengelegt, einzelne Produktionsvorhaben in Schülerhand gelegt und andere ganz gestrichen.

Durch diese Maßnahmen können alle Interessenten am Theater mindestens alle zwei Wochen in mindestens einem Kurs ihrem Hobby frönen; abgewiesen wurde bisher noch niemand.

Entsprechende Aufteilung der Gruppen versucht dem unterschiedlichen Leistungsniveau der Teilnehmer Rechnung zu tragen, und ein entsprechendes Kursangebot garantiert die Möglichkeit lückenloser Bedienung der Schüler von der 5. bis in die 13. Klasse. (Solange die Elternschaft bereit ist , die Kosten eines Drittels der bezahlten Stunden zu schultern, kann es so weitergehen.)

Wer spielt was?

In Anbetracht dieses großen Angebots an jungen Interpretinnen und Interpreten könnte man meinen, es sei ein Leichtes geeignete Stücke für sie zu finden, steht doch für fast jedwede Rolle eine passende Person zu deren Verkörperung zur Verfügung. Doch so einfach ist das nicht.

Allein die Tatsache, daß das Verhältnis von Jungen zu Mädchen in manchen Jahrgängen unter 1 zu 5 beträgt, und die Mädchen hierbei alle angemessen eingesetzt werden wollen, zeigt einen Teil der Schwierigkeiten bei der Projektauswahl. Manche Werke erfordern darüber hinaus nicht nur eine spezielle Qualität gewisser Protagonisten, sondern oftmals eine ganz bestimmte Konstellation von Spielertypen. Ein Beispiel: Für Beckett’s „Endspiel“ benötigt man zwei brillante Hauptdarsteller, die zum einen genug komödiantisches Talent mitbringen, zum andern aber auch zu ernsthafter, dramatischer Aktion fähig sind, dazu das intellektuelle Rüstzeug zur Bewältigung des Sinngehaltes des Stücks besitzen und die Bereitschaft zum Lernen der ellenlangen Dialoge eines fast 2-stündigen Werks. Daneben braucht man zwei zuverlässige Interpreten für die beiden Nebenrollen, die undankbarerweise die gesamte Dauer des Abends in einer Mülltonne zu verbringen bereit sind und sich nicht darüber beschweren, dass sie nur recht wenig (und dennoch nicht gerade leichten) Text haben.

Dennoch eignet sich gerade „die Moderne“ besonders für die Aufführung im Schultheater. Oft kann die geschlechtsspezifische Besetzung modifiziert werden: Die „drei Herren“ in Kurzszenen von Jean Tardieu oder in „Kunst“ von Yasmina Reza können ohne weiteres durch Frauen besetzt werden. Die Vergabe von Hosenrollen fällt auch in Dürrenmatts „Physikern“, im „Kleinen Prinz“ oder in Ionesco’s Werken nicht schwer, und in vielen unserer Inszenierungen konnte man manche Rolle wohl erstmals in weiblicher Besetzung erleben. Zur Not schreibt man sich seine Frauenstücke eben selbst („Wegweisung“, „Nebenrollen“) oder nimmt Werke mit hohem Frauenanteil ins Programm („Die Ballade vom Biggen Bäng“, „Groß und Klein“).

Dies ist in bei klassischen Werken schon schwieriger. „Bernarda Albas Haus“ ist nicht gerade ein günstiges Schultheaterstück (wir haben’s trotzdem gespielt), doch es sieht eben keine einzige Männerrolle vor und gibt vielen Interpretinnen Gelegenheit in größeren Rollen aufzutreten. In „Lysistrata“ und „Antigone“ sind Frauen zumindest in den Vordergrund gerückt, wobei die wenigen (und umso „spezielleren“) Jungen unserer Gruppe sich hier an reizvollen bis schwierigsten Parts versuchen konnten.

Die Stücke eines Tschechow, Goethe, Shakespeare, Büchner oder Schnitzler („Der Reigen“) jedoch kommen ohne gute Ausstattung mit Männern nicht aus. Wenn diese Autoren bei uns auf dem Programm standen, ließ dies auf einen – was die Jungs betrifft – besonders „guten Jahrgang“ schließen. Die Vielzahl unserer weiblichen Interpretinnen macht sich freilich gegenseitig Konkurrenz, und es ist auch beim besten Willen nicht möglich eine allen gerechte Zuweisung der Rollen zu bewerkstelligen; zumal gewisse Eignungskriterien keine untergeordnete Rolle spielen dürfen, will man den qualitativen Standart halten, der unserem Theater bisher seinen guten Ruf gesichert hat.

Doch Frau half sich bald selbst: Die unermüdlichsten Teilnehmerinnen meiner Kurse begannen mit selbstbestimmten Eigenproduktionen. Janina Knothe schrieb und inszenierte schon mit 16 Jahren(!) ihr erstes Musical („Dreaming“) und Julia Dippel erarbeitete etwa im gleichen Alter mit ihrer Gruppe ihr erstes abendfüllendes Theaterstück („Die Physiker“). Sie blieb dem „U 02 Theater“ seither als Regisseurin (u. a. das Musical „Saturday Night Fever“), Autorin (u.a. Musik-Comical „Laryngea“) und Spielleiterin erhalten und ist inzwischen für die Unterstufenprojekte mit ihren vielen Gesangseinlagen unentbehrlich geworden.

Auch die Bühnenwerke „Glaube“ (geschrieben vom Autorenduo Nicy Martens und Manuel Zaefferer) und Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ waren reine Schülerproduktionen in Eigenverantwortung, und für dieses Jahr erarbeitete Maximilian Brosius mit einer selbst zusammengesuchten Gruppe „Ein seltsames Paar“ in einer für unsere Bühne eigens erstellten Adaption.

Wir durften in den letzten Jahren kontinuierlich Beiträge aus dem Bereich „Schülerautoren-Theater“ bzw. Inszenierungen von Schülern und Schülerinnen bestaunen. Manche der jungen Talente waren sich nicht zu schade auch für die Unterstufe zu schreiben, wie z. B. Sandra Zeman („Blaubeerdbeerfelder und Blues“) und Julia Dippel („Ritter Sport“).

Zu hoffen bleibt, dass sich diese Reihe fortsetzen lässt. Für nächstes Jahr ist die Aufführung von Isabella Kajopoulos’ selbst inszeniertem Stück „Der Antrag“ (in dem sie auch eine der Hauptrollen übernimmt) geplant, dann soll es, ebenso in Eigenregie, „...Bärbel anrufen!“ von Joshua Klein und Leo Settele geben, Silvia Müller will „Biedermann und die Brandstifter“ inszenieren und die neue Regieklasse kümmert sich gemeinsam um eine Aufführung von „Lysistrata“ in einer Fassung für die Unterstufe von Julia Dippel, die mit „TestseT“ ein weiteres Stück aus ihrer Feder (und nur mit Frauen besetzt!) einer mittlerweile mit neuesten Bühnenwerken geradezu verwöhnten Schulöffentlichkeit vorstellen wird.

So sehe ich es in Zukunft als eine meiner Hauptaufgaben an, in unserem Theaterbetrieb peu à peu den Schülern selbst die größeren Aufgaben zu überantworten und mich immer öfter als Ausbilder, Anreger, Ratgeber, Moderator und Ermöglicher in eine Nebenrolle zurückziehen zu können.

Das „schiefe Wohnzimmer“

Wie prägend Nebenrollen für ein Theater sein können, zeigt das „schiefe Wohnzimmer“, das neben dem Raum U 02 stets nur eine Nebenrolle gespielt hat.

Wer weiß, wo das „schiefe Wohnzimmer“ zu finden ist, der gehört zum engeren Kreis unserer Theatergruppe, denn in diesem Zimmer fanden diejenigen Sonderproben statt, die ich außerhalb von Schulhaus uns Schulzeit für die ein oder andere Produktion für unerlässlich hielt.

Waren es in den letzten 10 Jahren 20 oder 30 Fahrten zu dem Haus mit dem „schiefen Wohnzimmer“? Ich habe sie nicht gezählt. Immer war es etwas Besonderes gewesen, in dem Hexenhäuschen mit dem verwilderten Garten ein paar Tage zu kochen, zu essen, zu schlafen, zu tratschen, zu diskutieren und auf der quasi natürlichen (Bauerntheater-)Bühne im „schiefen Wohnzimmer“ zu proben. Jedes Mal gemahnte es mich daran, wie glücklich man sich schätzen kann, wenn sich Freizeit und Beruf so unauffällig miteinander verschmelzen lassen, daß auf einen der Begriff des „Freiberuflers“ in seiner schönsten Bedeutung angewendet werden darf.

Hier konnte ich mich selbst als Gruppenmitglied (Funktion: Leitung) einreihen, hier konnte das Lehrer-Schüler-Verhältnis mitunter sogar in Freundschaft übergehen. (Einige meiner heute längst berufstätigen Freunde waren dereinst meine Schüler!)

Und darüber hinaus konnte ich im „schiefen Wohnzimmer“ zu den wenigen Schulstunden ein paar Stunden konzentrierter Extraproben hinzugewinnen – und das trotz Schlafmangels! Was will man mehr?

Die „Hall of Fame“

Zu Jubiläen (speziell bei solchen einer ephemeren Kunst wie dem Metier der „Theatermacher“) ist es an der Zeit den Besten der Guten ein Denkmal zu setzen. Dies mag in Reden und Schriften geschehen, doch für eitle Selbstdarsteller wie uns kann es nichts Schöneres geben, als uns selbst auf irgendein Medium gebannt der Nachwelt erhalten zu wissen.

Dementsprechend die Idee im Kellerflur der Schule eine Art „Oskar-Walhalla“ erstehen zu lassen. In Übereinstimmung mit der (für eine andere Ausstellung beschafften) Zahl der Beleuchtungskörper konnte bis zu 30 Mitgliedern unseres Theaters die Ehre des dort „Aufgehängtseins“ zu teil werden.

Mit der Auswahl haben wir ( ich sage nicht, mit wem alles ich mich besprochen habe) es uns leicht gemacht: Die Zahl der unbestrittenen Größen unserer Bühne hat in den letzten 10 Jahren gut und gerne ein halbes Hundert überschritten – davon haben wir einfach ein paar gestrichen und schon hatten wir unter jeder der uns zur Verfügung stehenden Lampen ein Protraitfoto. In Zukunft kommen je nach Bedarf die neuen Sonderfälle unserer Theatergeschichte hinzu, und die ältesten, die dann eh keiner mehr kennt, müssen weichen.

Damit diese aber bei Bedarf in einer technisch dazu gerüsteten fernen Zeit wieder zum Leben erweckt werden können, haben wir ihren genetischen Code (soweit wir dem Material habhaft werden konnten) eingeschweißt und zu den Fotos in den Fundus gehängt. Mal sehen, was die ganzen Klone zum Jubiläum im Jahr 2096 als erstes aufführen wollen...!

Was kommt vor der Hundertjahrfeier?

Ungefährdet ist unsere derzeitige Theaterarbeit jedoch nicht. Unsicher bleibt u. a. Jahr für Jahr die Bewilligung der vollen Stundenzahl für uns Spielleiter, zumal die Stunden für Julia Dippel ja aus der Kasse des Elternbeirates bezahlt werden. Doch nur mit der derzeitigen Stundenzahl von 9 bezahlten plus durchschnittlich 3 bis x unbezahlten pro Woche kann der Betrieb im aktuellen Umfang aufrechterhalten werden.

Auch wenn zur Zeit „der Laden brummt“, und die Planung bis auf fast drei Jahre im Voraus einigermaßen durchdacht ist, ist es nicht selbstverständlich, daß das Schülerinteresse weiterhin in gleich hohem Maße erhalten und weiterhin qualitativ ein befriedigendes Ergebnis erarbeitet werden kann. Zum einen sind die gestiegenen schulischen Anforderungen eines achtstufigen Gymnasialsystems nicht gerade günstig für zusätzliche Lehrangebote, zum andern werden die Jugendträume einer märchenhaften Zukunft (z.B. als Schauspieler/in) früher ausgeträumt sein müssen als bisher. Zugunsten unseres Wirtschaftsystems muß wohl auch der Oberschüler früher „profitabel“ werden und sich „die Flausen aus dem Kopf schlagen“. Effektivität und Zielstrebigkeit, Anpassung und Biegsamkeit werden zu Schlüsselbegriffen im Erziehungskatalog.

Was bedeutet das in der Konsequenz?

Die allseits geforderte Förderung von Phantasie und Mut zum Außergewöhnlichen wird mehr und mehr von (sich nur kurzfristig „auszahlenden“) ökonomischen Maßstäben zurückgedrängt und wider besserer Erkenntnis als purer Luxus begriffen. Es geht die fortschreitende Ignoranz der Massengesellschaft, was ihre Wertschätzung gegenüber den bisherigen Kulturleistungen betrifft, mit der zunehmenden Desensibilisierung im Gebrauch derselben (und damit mit der abnehmenden Neugier auf solche Leistungen und mit dem Verlust der Lust an neuen Produkten freier menschlicher Einbildung) einher.

Der trauernde Kenner flieht in intelligent und kunstreich verpackten Zynismus oder zieht sich mit seinen Mitstreitern in den berühmten „Elfenbeinturm“ zurück, während sich die geschädigte Schar tumber Konsumenten an der unkomplizierten Einnahme billiger, dümmlich-platter Unterhaltungspillen erfreut. Daran ändert sich auch nichts, wenn der durchschnittliche erwachsene Intellektuelle Klassik - zu Weihnachten Bach, zu Neujahr Beethoven, Sonntag vormittags Vivaldi (oder war’s doch Rondo Veneziano?), im Freien mal Orff mal Verdi und zur Hochzeit natürlich Mendelsson – einwirft!

„Theater an der Schule“ droht in dieser Zivilisationsphase zur bloßen Animationsmaßnahme im Kampf gegen die härteren Drogen und den nachmittäglichen Lebensüberdruß des noch zu wenig abgestumpften Teils der Jugendlichen zu verkommen. Das Spielen auf der Bühne wird zur Hauptsache dem Erwerb von Sozialkompetenz, also Unterordnungs- bzw. Leitungsfähigkeit fürs spätere Leben am globalen Markt dienen. (Der Begriff „Theater“ wird aus motivationstechnischen Gründen beibehalten werden...)

Sicher, sicher: Unwahrscheinlich ist es, daß die Entwicklung (nach der Reduktion des allgemeinen Kunstanspruchs bis hin zur Zufriedenheit mit der ästhetischen Aussagekraft etwa eines Raumduftzerstäubers) stehen bleiben wird. Ein neues Bedürfnis nach zweckfreiem Gebrauch menschlicher Vorstellungskraft wird aus den immerhin romantischen Ruinen unserer alten Kultur sprießen, und es wird sich – wer weiß, nach Jahren des erfolglosen Aufpäppelns eines Auslaufmodells namens „Theater“? – auch an unserer Schule wieder eine unerwartet hochmotivierte und energische Kunstgruppe gründen, dann vielleicht wieder eine für „Neue“ Musik?

Cornelius Hirsch (2005)